Bilder des grauens
Wieder steht Karim, 5 Jahre alt, vor der großen Malwand und graviert mit dem Pinselstiel zackige Muster auf sein Blatt. Er übt starken Druck auf das Papier aus. Dabei wiederholt er immer wieder: „Das ist laut!“
Bevor Karim beginnt, sein Bild zu übermalen und zu zerkratzen, malt er, lachend und hüpfend, lustvoll große grüne Flächen und fügt etwas Blau hinzu. Grün hat eine psychisch harmonische und ausgleichende Wirkung, Grün beruhigt, ist sanft und freundlich.
Das Bild wirkt hell und positiv.
Dann beginnt er die hellen Farben mit dunklen zu übermalen, zu überdecken. Es ist kaum etwas vom ursprünglichen Bild zu erkennen. Schließlich dreht er den Pinsel um und beginnt, mit dem Stiel kleine Bewegungen einzukratzen. Die Dynamik des Pinsels nimmt zu, wird heftiger und stärker. Er graviert tiefe Spuren in sein Bild.
Ein anderes Mal gestaltet er eine Rutsche. Während er malt, wiederholt er: „Die ist aber gefährlich.“ Danach malt er Wasser, in das die Rutsche führt. „Wasser, Salz, ist das.“ Über die Rutsche kommen Bögen und darüber Regen. Heute ist der Regen braun.
Karim ist vor ca. zwei Jahren, bevor die Bilder entstanden sind, aus dem Irak nach Österreich geflüchtet. Seine Bilder beinhalten über einen langen Zeitraum Waffen, Bomben, Kratzer und andere Bedrohungen.
Dr. Udo Baer schreibt unter anderem im Buch „Traumatisierte Kinder sensibel begleiten“, BEAR, 2018, über die Bilder des Schreckens.
Wenn traumatisierte Kinder frei malen oder gestalten, entstehen oft Bilder des Schreckens. Gewalt, Bomben, Angst, Boote, gefährliche Wasserrutschen, die im Salzwasser enden, brennende Häuser kommen zum Vorschein. Diese Bilder schockieren uns, dennoch ist es wichtig, den Malprozess nicht zu unterbrechen, nicht zu werten oder das Kind anzuregen, etwas „Schönes“ zu gestalten.
Betroffene Kinder sind voll mit diesen Bildern. Geben wir ihnen die Chance, den Bildern Ausdruck zu verleihen, wandern sie von innen nach außen. Somit hat das Kind eine Möglichkeit, die Bilder loszuwerden oder zumindest die Kraft der Bilder abzuschwächen. Werden stattdessen positive Bilder nach Wunsch gemalt, verdrängt das Kind seine Gefühle und die inneren Gewaltbilder verschwinden trotzdem nicht.
Wenn wir den Kindern Interesse an ihrer inneren Erlebniswelt zeigen, indem wir z.B. sagen: „Das ist aber schlimm…“ und dadurch Anteil nehmen, wird das Kind ermutigt, weitere Bilder zu malen. Es erlebt, dass es in Ordnung ist. Es ist in Ordnung, auch wenn es seine dunklen inneren Bilder darstellt. Durch das wiederholte Malen verschwinden mit der Zeit die Bilder des Schreckens und werden durch andere Bilder ersetzt.
KARIM IST RUHIG, ZURÜCKHALTEND UND ÜBERANGEPASST
Als ich Karim kennenlerne, ist er 5 Jahre alt. Im Kindergartenalltag ist er ruhig, zurückhaltend und überangepasst, fällt in der Gruppe kaum auf. Ich begleite den Buben im Rahmen einer Kleingruppe mit kunsttherapeutischen Methoden. In Abstimmung mit den Erziehungsberechtigten setzt mich die Pädagogin des Kindes zuvor kurz ins Bild: Mit 3 Jahren flüchtet Karim mit seiner Familie nach Österreich und lebt seither hier. Er kann sich mit einfachen Sätzen verständigen, hat Freunde in der Gruppe gefunden. Oftmals zieht er sich jedoch zurück, wird seltsam still. Das Kind ist wiederholt zahlreichen Gewalterfahrungen ausgesetzt gewesen. Karim soll im Rahmen der Kunsttherapie eine Verarbeitungs-, Entlastungsmöglichkeit und Selbstwertstärkung geboten werden.
In der kunsttherapeutischen Begleitung erhält Karim die Möglichkeit, seine inneren Bilder zum Ausdruck zu bringen. Indem ich den Prozess achtsam begleite, erfährt er Entlastung, auch wenn er nicht über genügend Sprache verfügt.
Mithilfe der Bilder lernen wir, die Sprache der Kinder zu verstehen. Auf dem Papier kann Karim seine Gefühle mitteilen. Der freie Malprozess hilft Spannung abzubauen, entlastet und entspannt. Der Bub erhält durch das Kreativangebot ein Werkzeug, sich seiner Umwelt mitzuteilen. Die inneren Bilder, die das Kind auf Bildern zum Ausdruck bringt, hätte es unmöglich in Worte fassen können.
"ICH BIN IN SICHERHEIT"
Nach einigen Einheiten treten an die Stelle der Schreckensbilder Rollenspiele, Gestaltungsprozesse und andere kreative Ausdrucksmöglichkeiten. Der Weg aus der Hilflosigkeit hat begonnen.
Karim genießt es, mit der Sandwanne zu spielen, mit Papp Mache` aus Zeitungspapier, das zuvor zusammengedrückt und geknüllt wird, zu gestalten und Neues entstehen zu lassen. Die entstandenen Gegenstände werden nicht bewertet.
Im Kindergartenalltag reagiert Karim nun nicht mehr überangepasst. Für einen kurzen Zeitraum reagiert er sehr stark und mit geringer Frustrationstoleranz. Oft weint er aus nicht nachvollziehbaren Gründen oder aber er reagiert übermäßig und lässt sich schwer beruhigen. Er traut sich nun, seine Frustration zu leben. Körperliche Nähe und viel Geduld der Pädagoginnen helfen ihm dabei, wieder zur Ruhe zu finden. Im Austausch mit der gruppenleitenden Pädagogin und seiner Familie wird Karim die Möglichkeit gegeben, in sicherer Umgebung seine Gefühle zu zeigen. Er erfährt Trost und Nähe.
Dr. Udo Bear verwendet im bereits erwähnten Buch „Traumatisierte Kinder sensibel begleiten“ den Leitsatz „Gegen Druck hilft drücken.“ Sich gegenseitig drücken, umarmen, kann Druck nehmen. Das Drücken hilft, Druck abzubauen. Das Kind erfährt Wirksamkeit, da es selbst auch Kraft aufwenden muss, um jemand anderen zu drücken.
Das Drücken in der Therapie kann auch spielerisch über Materialien wie Ton, Sand, Drucktechniken, Knete usw. angeboten werden.
Karim weiß nun, dass er in Sicherheit ist, dass er gut ist, wie er ist, und dass er seine Gefühle zeigen darf, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht adäquat gelingen.
Nach einiger Zeit gibt sich diese impulsive Phase.
RUHE KEHRT EIN
Anstelle der Malprozesse tritt nun das Spiel mit der Sandwanne. Das feine, bewegliche Material hat eine beruhigende und entspannende Wirkung.
Sand wird in der Jungschen Therapie sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen eingesetzt. Mithilfe von kleinen Spielsachen und Gegenständen werden spielerisch Szenen dargestellt. Karim verwendet dafür gerne Murmeln, ein kleines Auto und eine Bubenfigur. Sand bietet den Vorteil, dass es ein eigenes Material ist und nicht erst produziert werden muss wie beim Malen. Die Figuren müssen nur noch eingefügt werden. Sand bietet einen guten Untergrund, kann bewegt, aufgeschüttet, begraben werden. Er fühlt sich angenehm an, kann mit Wasser vermengt werden, ist formbar, regt zum Matschen, und damit die taktile und kinästhetische Wahrnehmung, an. Beim Spielen mit Sand kann das Kind vieles zum Ausdruck bringen, ohne zu sprechen. (vgl. OAKLANDER, 2013, 210 ff)
„ICH BIN WERTVOLL!“
Zum Abschied gestalten wir gemeinsam ein Erinnerungsheft. Dazu sucht Karim Fotos unserer Treffen aus einer Schatzkiste aus und gestaltet in einem Heft jeweils eine Seite dazu. Ein guter Abschluss macht möglich, dass sich das Kind auch später noch die Geborgenheit und Sicherheit, die es in den letzten Monaten erfahren hat, ins Leben holen kann und darauf vertrauen kann, dass ihm auch Gutes widerfährt.
Eine Seite des Hefts verziert Karim mit Blattgold. Ich erzähle ihm, dass das Gold besonders wertvoll ist, und sage: „Du bist wertvoll!“ Er schaute mich erstaunt an und fragt nach: „Ich?“ Ich wiederhole daher den Satz: „Ja, du bist wertvoll!“ Karim strahlt. Ich schreibe den Satz in sein Buch, damit er sich an das Gefühl erinnern kann, es aufrufen kann, wenn er einmal traurig ist, und sage nochmals: „Du bist wertvoll! Du kannst auch sagen: Ich bin wertvoll!“ Karim strahlt und wiederholt den Satz:
„ICH BIN WERTVOLL!“
Er spürt in diesem kurzen Moment seinen Wert! Als das Heft fertig ist, ist Karims Zufriedenheit spürbar. Ein positiver Abschied ist gelungen.
Das Beispiel aus der Praxis zeigt, warum gerade Mal-und Gestaltungstherapie dem kindlichen Ausdruck so entgegenkommt.
Beim Malen und Gestalten wird das Kind zum selbstbestimmten Wesen. Es nimmt den Pinsel, das Malwerkzeug in die Hand und schon nach einigen Farbspuren spürt es, dass es etwas bewirkt, etwas geschaffen hat. In der kunsttherapeutischen Praxis haben Kinder die Möglichkeit, im geschützten, wertfreien Rahmen Farben zu spüren, zu erleben, zu experimentieren. Sie werden individuell und achtsam begleitet, erleben Sicherheit. Beim Malen und Gestalten braucht es keine Worte, daher kommen die Methoden der Mal- und Gestaltungstherapie der kindlichen Ausdrucksweise sehr entgegen.
Kunsttherapie ist eine Therapieform, bei der die Klient*innen aktiv sind, ins Tun kommen und somit erfahren, dass sie etwas bewirken können. Die Selbstwirksamkeit wird somit gestärkt und der Weg aus der Hilflosigkeit hat begonnen.
Mal- & Gestaltungstherapie wirkt, besonders dort, wo Sprache fehlt!
Ich bin dankbar, Kinder und Jugendliche als Kunsttherapeutin begleiten zu dürfen.
Besonders gut gelingt dies, wenn deren Bezugssysteme eingebunden sind. Im Rahmen der Therapie wird ein geschützter Rahmen geboten, der in der Zusammenarbeit mit Eltern, Pädagoginnen sowie allen anderen Bezugssystemen aufrechterhalten wird.
Die Kunsttherapie arbeitet mit dem gesunden Menschen und ersetzt keinen Besuch bei Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen.
* der Name des Kindes ist abgeändert